• Rapunzel
    Rapunzel
    Illustration (Ausmalbild), Petrosinella
Dezember 2020
Bernhard Chiquet
Tags:

gelungen – misslungen

Einblick in den Blog «Erinne­rungen (er-)finden»

Bei keiner anderen Katze hatte ich je dieses Verhalten beobachtet. Als ich es zum ersten Mal sah, war ich irritiert und besorgt, weil es weder zu ihrem sonstigen Geschick noch zu ihrer beeindruckenden Kraft beim Springen und Klettern passte.

Sie geht auf den Heizkörper zu, auf dem sie sich gerne den Bauch wärmt. Nimmt die Höhe in den Blick, bringt die Hinterläufe in Stellung, duckt sich leicht und. Landet auf der halben Höhe. Prallt, gar nicht katzenelegant, seitwärts gegen die Röhren, bringt, kurz vor dem Boden, die Pfoten unter den Leib. Findet schliesslich wieder ihr Gleichgewicht. Das spielt sich in Sekunden ab. Meist springt sie kurz darauf ein zweites Mal, in gewohnt schmeidiger, zurückgenommener Manier, die Höhe um keinen Millimeter verfehlend, genau im Höhepunkt der Sprungparabel aus der Luft aussteigend auf festen Grund, wie wenn es nichts bedeutete.

Die misslungenen Versuche las ich zuerst besorgt als Symptome einer möglichen Krankheit. Die Vorfälle blieben jedoch selten, und mir schien es nach genauerem Hinschauen eher eine Macke. Wenn sie auf diese Weise ihr Vorhaben verfehlte, war es, als ob sie es schon vor dem Losschnellen der Fersengelenke abbrechen würde, so als hätte ihr Körper den Sprung in Angriff genommen, bevor ihr Geist dazu bereit war. Ich sah, in der Zeit eines Wimpernschlags, die mangelnde Übereinstimmung in den Feinheiten ihrer Bewegung. Oder eher, spürte sie in meinem Körper, auftauchend aus dem Speicher ähnliche Erfahrungen. Die Beiläufigkeit, mit der die Katze ihren zweiten Versuch unmittelbar nach ihrem Scheitern realisierte, wirkte beruhigend. Manchmal erschien sie aber verlegen, und musste sich zuerst eine Weile putzen, als hätte sie eigentlich nur das gewollt.

Man kann es sich zur Methode machen, mit dem Arbeiten zu beginnen, bevor überhaupt die richtigen Werkzeuge dafür bereitgelegt sind, ja bevor auch nur genügend Platz und eine ausreichend geordnete Umgebung geschaffen wurden. Das würde einen bewahren vor der Beschämung, zu scheitern, nachdem und obwohl alles sorgfältig bereitet war, die Arbeitskleidung übergezogen, die Tischfläche abgedeckt, genügend Papier in Griffnähe, verschiedene Stifte und Pinsel in Wartestellung gebracht, gewisse Vorentscheidungen bezüglich der zu benützenden Mittel, Formate und Vorgehensweisen getroffen, der Kopf geleert, die Schultern entspannt und im Künstlerhabitus eingerichtet. Dann die Niederlage, den Misserfolg hinnehmen zu müssen, erschiene zweifach demütigend, weil sich zur Bitternis des Misslingens die Lächerlichkeit gesellte. Das sorgsam inszenierte Ritual der Vorbereitung würde durch die klägliche Qualität, oder noch schlimmer, durch das völlige Ausbleiben von Ergebnissen als Anmassung blossgestellt.

Und wenn auch die Umgebung kopfschüttelnd fragt, wie kannst du bloss in einer solchen Unordnung? - oder anrät, ich würde zuerst einmal dies und jenes!, so erscheint es dennoch verlockend, und leichter, jede Vorbereitung überspringend direkt mit der Arbeit zu beginnen. Nein, ein Anfang soll gar nicht zu erkennen sein, dann liesse sich im Falle einer Stockung, eines Scheiterns oder gar Abbruchs leichter so tun, als habe man gar nichts getan, ja nicht einmal etwas gewollt. Und man könnte einen Teil des Misserfolgs den Umständen zuschreiben, die einen Erfolg nicht zugelassen hätten. Noch nicht.

Vielleicht ist es aber einfach der fehlenden Kraft zuzuschreiben, dass man vor, während und nach dem Arbeiten nicht in der Lage war, Ordnung zu schaffen.

Ich mache mich daran, eine Geschichte aufzuschreiben, und mit einer Folge von Zeichnungen zu illustrieren. Anlass ist die Weihnachtszeit, zu der dem Enkelkind in der Ferne ein Märchen zum Vorlesen, mit Bildern zum Ausmalen, geschenkt werden sollen. Das Märchen der Rapunzel scheint für ein kleines Mädchen geeignet, wobei das Ende aus der neapolitanischen Urfassung die allzu tränenreiche Version der Gebrüder Grimme ersetzen wird.

Wieder einmal den Einstieg ins figürliche Zeichnen finden. Mit der Hexe zu beginnen ist wohl eine gute Idee, da wirken sich missgestaltete Glieder nicht zum Nachteil aus. Man kann experimentieren mit verschiedenen Graden von Naturalismus, mit Anlehnungen an Comic-Figuren und gelungen erscheinende Illustrationen.

Nichts vorbereitet und schon mittendrin, mit einem schlecht gespitzten Bleistift auf dem Block aus Makulatur, auf schlechtes Papier für den Drucker, mit von der Rückseite durchscheinender Schrift. Also richtiges Zeichenpapier geholt, den Stift gespitzt. Danach aber schaut mich die Hexe, und dann noch das Rapunzelmädchen!, so an, dass ich mich winde vor Unbehagen. Sie sind auf ungute Weise meine Kinder, ich sehe in ihnen Aspekte eines Selbstbildes, die mir unbehaglich sind.

Also wende ich mich an die ersten Versuche. Die Hexe da ist gut, sie hat Schmuddel, und sie hat sich von mir gelöst, ich kann unbeschwert an ihr herumdoktern. Ich schneide sie grob aus, klebe sie auf den besser gelungenen Hintergrund eines andern Blattes, auf stärkeres, reinweisses Papier. Die diebische Mutter Rapunzels, die im Garten der Hexe Wurzeln stiehlt, ist zu karikiert. Die wird der Enkelin vielleicht zu hässlich, zu bäurisch erscheinen, aber ich lasse sie. Sie hat sich von mir emanzipert.

Das fertige erste Bild ist eine sperrige Kollage, ich zwänge sie in den Scanner. Als digitale Zeichnung kann sie weiter überarbeitet werden. Ungeschickte Schlenker sind entfernbar, ich kann Teile der Zeichnung herausschneiden, vergrössern, drehen, spiegeln und, und. Auf der neuen Stufe von Entscheidungen sind Offenheit und die Vielzahl der Möglichkeiten nur durch intuitives Spielen zu bändigen. Irgendwann muss man dem ein Ende setzen, sich festlegen und die bleibende Ambivalenz schlucken.

Wieder am Tisch, mit der Feder in der Hand, ertappe ich mich mehrmals beim Suchen nach einer Reset-Taste, wenn ich den Strich schlecht geführt habe. Die erste Rapunzel ist unbrauchbar, zu alt, zu naturalistisch, zu wenig frech. Es hilft, zwischendurch in Ungerers Liederbüchern zu blättern. Plötzlich habe ich sie. Die Knopfaugen unter den hochgezogenen Brauen blicken konzentriert und etwas verärgert auf die Seilrolle, mit der sie die schwere Haarpracht herunterlassen soll. Rapunzel gleicht auf diesem Bild sogar etwas unserer Enkelin.

Link zum Blog