Jürg Orfei
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Fictional Travelling
Im Kopf unterwegs sein – ist auch ohne virtual reality-Helm möglich: Wenn man sich auf Orte einlässt, die man aus verschiedenen analogen oder digitalen Quellen zu einer eigenen Realität konstruiert.
Das Nebeneinander von realitätsnaher Abbildung und abstrakter Karte habe ich erlebt, als ich in Danzig auf Spurensuche ging. Auf Professor Jacek Dominiczaks urbanem Code habe ich einen Ort entdeckt, der so prominent auf dem Raster liegt, dass ich den sehen musste. Ohne diese zeichnerische Behauptung hätte ich das schöne, aber in einem unscheinbaren Quartier gelegene Tor nie besucht. Der für andere unsichtbare Raster führte mich ein eine Mixed Reality.
Dieses Diagramm für eine Entdeckung einer Stadt ist eine andere Möglichkeit, dem Wesen einer Stadt auf die Spur zu kommen, nämlich der psychischen Erschliessung eines Ortes. Ein “Guide Psychogéographique” ist ein interessanter Begriff und stellt unsere Wahrnehmung dar wie es eine, sagen wir, normale Karte nicht kann.
Genau diese Verbindung zwischen dem Physischen und Psychischen ist auch in den “Manhattan Transcripts“ von Bernhard Tschumi ein Thema. Die Stadt lebt nicht nur von der statischen Masse, sondern auch von der Dynamik der darin lebenden Menschen. Die Quintessenz davon ist ein architektonischer Entwurf, der dem Flüchtigen, den Zwischenräumen, Rechnung trägt.
Wenn man seine Wahrnehmung schärft auf die vorher gezeigten Phänomene, werden auch die Bilder von Robert Rauschenberg und Richard Hamilton zu einer Mixed Reality zwischen Aufsicht und Ansicht, Plan und Raum, Flach und Tief, undsoweiter. Diese vordergründig leicht zusammengesetzten Bildwelten finde ich eine spannende Quelle für das vorliegende Thema.
Wie wir uns orientieren, ist nämlich nicht auf ein Medium reduzierbar. Diese Stadtansicht zeigt mir durchaus starke Identitätsmerkmale aus Architektur und Verkehrsinfrastruktur –
Trotzdem brauche ich die Abstraktion, um mich zu orientieren. Und obwohl schematisch, generiert dieser Plan trotzdem Bilder in meinem Kopf – es ist ja selbst ein Bild!
Dass dieses Bild nicht der Realität entsprechen muss, sondern mit einer angeeigneten Realität zusammenkommen kann, zeigt dieses Beispiel. Wie so oft schweife ich auf google Street View ab, weil, naja, mich interessiert, wie die Architektur des 19. Jahrhunderts an den Rändern Chicagos aussieht – und schon finde ich mich in Vororten und lasse mich treiben, so als wäre ich zu Fuss unterwegs in London. Durch das unmittelbare Nebeneinander in meinem Kopf bin ich tatsächlich in einer mixed reality unterwegs – und dass ich die Kreuzung von Bakerloo und Northern Line in Charing Cross verbinde mit dieser Kreuzung von Zug und Strasse ist für mich ein wunderbares Fundstück, ähnlich wie das Tor Brama Nizinna in Danzig.
Dieses Phänomen hat mich interessiert und veranlasst, in einer Kurswoche ein Klassenzimmer so aufzubauen, dass es ein Wandern zwischen Welten ermöglicht. Einerseits physisch, d.h. die Kursteilnehmerinnen und -Teilnehmer haben keinen festen Arbeitsplatz, sondern pendeln zwischen Tischen, Nischen und Unorten – alle mit einem Punktlicht beleuchtet. Andererseits treffen sie da auf unterschiedliche virtuelle Orte: Analoge Karten, Pläne, Fotos, Reiseführer sowie Laptops mit digitalen Karten und Google Street View. Das Reisetagebuch war der ideale Begleiter, und ganz spannend war, wie sich die meisten Schülerinnen und Schüler darin versenkt haben –
gerade diese (leider unscharfe, aber vielleicht gerade deswegen richtig abgebildete) Situation zeigt das ziemlich deutlich.
Als ich dann angefragt wurde, den Projektraum in der Ausstellung voyage, voyage im Kunstmuseum Olten mit einer Klassenarbeit zu bespielen, wollte ich nicht nur das Bild zeigen, sondern den Entwicklungsprozess. Ich habe also mein eigenes Atelier eingerichtet, benannt nach meinem Kinderzimmer, in dem ich jeweils stundenlang Ferienprospekte wälzte und mich so auf imaginäre Reisen begab. Aus dem Koffer nahm ich Bilder und Karten und begann zu zeichnen. Was als Performance sichtbar war, änderte bei meiner Abwesenheit in eine partizipative Ausstellung. Das Saalblatt erklärte nämlich, wie dieser Raum zu gebrauchen war, nämlich als Ort der Mitarbeit, des Weiterspinnens, des Ankommens, sich Zeit Nehmens und wieder Aufbrechens.
Als Folge wurde ich abermals angefragt, den Kleinsten Kunstraum Olten zu bespielen. Es lag für mich auf der Hand, das Reisebüro Erker noch einmal einzurichten, gerade da sich diese Vitrine in der Martin-Disteli-Unterführung im Bahnhof Olten befindet. Dieser Ort hat anders funktioniert, eher wie Beuys, der dem toten Hasen die Bilder erklärt. Ich war mit meinen Reisebildern allein. Die Passanten konnten mich aber sehen! Und wie Head-Up Displays zeigte ein Bild immer ein anderes Bild in diesen A5-MDF-Karten. Das Unterwegssein ist ja flüchtig, und ein Bild generiert immer ein Erinnerungsbild.
Im Unterricht habe ich das A5-Format übernommen und liess mit Zeichenpapier und Abdeckband gut faltbare Karten machen. Diese lassen sich theoretisch unbeschränkt erweitern.
Mit diesen Karten und wenig Zeichenmaterial wurden die Schülerinnen und Schüler losgeschickt.
Also mit schlankem Reisegepäck, ein paar Bleistifte und Farbstifte und all das Zeugs im Etui.
Die erste Station war für alle gleich. Sie mussten sich einen Ort im Schulhaus suchen, wo sie sich wohlfühlen, wo sie etwas entdecken, was sie interessiert – als wären sie unterwegs mit dem Skizzenbuch in Rom. Diesen Ort bzw. die An- oder Aussicht sollen sie sowohl zeichnen als auch kartografieren.
Dieses Nebeneinander kann anschliessend auch rein formal oder atmosphärisch sein und muss nicht zwingend der “objektiven Wahrheit” entsprechen, wie in diesem Beispiel: Die Apsis des Doms von Pienza hat die gleiche Form wie diese Guezli-Dose. So weit hergeholt ist das ja nicht, weil man auf der Treppe vor dem Dom durchaus einen Kaffee geniessen kann. Und solche Formalen Verwandtschaften machen ja glücklich!
Auch das Übereinander ist möglich – da muss man ja mal den Mut haben, einfach Bild über Karte oder umgekehrt zu zeichnen!
Das Resultat kann dann neue Formen generieren, Zwischenräume, die einen weitertreiben, vielleicht zu einem Haus von Siza oder zum Hafen von Genua.
Ein Durchdringen eines Bildes oder über zwei Bilder hinweg mit Kompositionslinien, die auch zufällig entdeckt werden, ist eine weitere Facette dieses additiven Arbeitens.
Das Wichtigste aber war das Zimmer selbst und seine Anlage. Wiederum habe ich einzelne Stationen eingerichtet,
sie mit einem Vorhang getrennt, punktuell beleuchtet und ganz individuell eingerichtet. Mit einem Kartentisch, Kunst- und Architekturbücher, einer Bibliothekszeile mit Reiseführern, einem Tisch mit Spielen. Diese eignen sich mit ihrer Verbindung von Illustration und Kartenteil besonders gut.
Die Reisenden wurden gebeten, sich wirklich nomadisch zu verhalten, nicht länger als 20 Minuten an einem Ort zu bleiben, also in einer Doppelstunde sicher 3 mal den Standort wechseln.
Hier sieht man, wie die Schülerin rechts auf der Terrasse der Kanti begonnen hat und sich gegen links Richtung Vietnam bewegt – wie selbstverständlich wird aus dem Hardwald eine irgendwie südostasiatische Insellandschaft.
Architekturbücher eignen sich besonders als Vermittler zwischen Massstäben - der Plan ist Übergang zwischen Karte und perspektivischer Darstellung.
Jede Woche wurde die wachsende Kartensammlung aus Distanz, also aus räumlicher UND zeitlicher Distanz angeschaut.
Aus einem Ort, den man sozusagen live erfahren hat, geht es weiter mit einer Entdeckungsreise – nicht unbedingt Orte suchen, sonst läuft man Gefahr, in Stereotypen abzudriften. Manchmal wurde ich gefragt, ob ich ein Bild z.B. der Freiheitsstatue habe. Da antwortete ich jeweils: Ist es das Bild, das du wirklich brauchst an diesem Ort (wenn sie vielleicht in New York war)? In einem Reiseführer haben wir dann einen Ort gefunden, der der Atmosphäre viel näher war. Es stellen sich also Fragen zu Möglichkeiten, die eigene Lektüre mit Fundstücken zu erweitern, und nicht mit Allgemeinplätzen zu illustrieren.
Diese Sammlung zeigt besonders schön, wie sorgfältig abgewogen wurde, welche Technik sinnvoll ist. Manchmal ruhig, dann wieder impulsiv und immer im Moment, wuchs die Karte heran zu einem Protokoll des geistigen Unterwegsseins.
Zwischen ganz grosszügig, flächig und dann wieder im Detail verlierend war diese Arbeit zu jedem Zeitpunkt ergebnisoffen – und trotzdem arbeiteten die Meisten in Richtung eines (in Anführungszeichen) fertigen Bildes.
Hier ein schönes Beispiel einer Orientierung anhand von Wegen – das können auch Linien von Meeres-Untiefen sein, auch die Londoner Underground-Map ist wieder da und kontrastiert die geografische Genauigkeit mit ihrer schemenhaften Grafik.
Der Begriff des Loops oder der Promenade Architecturale wird hier gut sichtbar, eine Reise durch eigene, fantastische, aber immer – gefundene Welten.
Es kann spannend sein, Stellen offen zu lassen, wenn man nicht weiter weiss, oder den Ort noch nicht bereist hat. Der Weisse Fleck ist ja ein Überbleibsel aus den Atlanten des 19. Jahrhunderts. Und wenn dann viel Information zusammenkommt, wird die Dichte schier unleserlich…
Als Zeugnis einer intensiven, kritischen Arbeit ist dies eine Qualität.
Zum Schluss hat sich oft eine unglaubliche Ruhe eingestellt. Das Vertiefen in eine eigene Welt hat dann zu einer fast klösterlichen Atmosphäre geführt – nicht weil ich Ruhe wollte, sondern weil das Setting diese begünstigte. Dieser kleine Ausschnitt aus einem Comic von Cosey finde ich dafür programmatisch:
Dicht, aber in aller Ruhe findet man einen Ort, der zwischen den Welten liegt.
Das Aneignen von physischem Ort und virtueller Reise hat die Meisten vollkommen absorbiert, und die Pausenglocke hat sie aus ihrer konzentrierten Mixed Reality gerissen. Die Alltagsrealität hatte sie wieder und der Unterricht – war vorbei.