LBG
Künstlerische Vorbildung bei Architekturstudierenden II
Umfrage mit Architekturstudierenden der ETH Zürich im 2. Semester, April 2022.
Von Barbara Fässler, Thomas Schatz, Ireni Vafiadis.
Ausgangslage
Nach einer ersten Umfrage im September 2021 zur Vorbildung im künstlerischen Bereich der Architekturstudierenden bei Studienbeginn im 1. Semester an der ETH Zürich, unternahm der Fachverband für Bildnerisches Gestalten (VSG-BG/LBG) im April 2022 eine zweite Umfrage - erneut mit freundlicher Unterstützung von Frau Prof. K. Sander, Lehrstuhl für Architektur und Kunst, und Herr T. Becker, Dozent im Modul «Architektur und Kunst», an der ETH Zürich.
Der Rücklauf ist mit 70 Teilnehmenden von insgesamt etwa 230 Studierenden erwartungsgemäss kleiner als bei der ersten Umfrage und somit weniger repräsentativ. Als weitere Vorbehalte muss klargestellt werden, dass es sich bei den Daten um eine subjektive Einschätzung von Architetkturstudierenden im ersten Ausbildungsjahr handelt und nicht etwa von Architekt*innen, Architekturdozierenden oder Kunstpädagog*innen.
Dennoch lassen sich aus den Daten interessante und aussagekräftige Erkenntnisse herausziehen. Damit können Anregungen zum eigenen Kunstunterricht sowie allgemein zum aktuellen Fachdiskurs gewonnen werden. Insofern richtet sich diese kleine Studie insbesondere an gymnasiale Kunstlehrpersonen und Kunstpädagog*innen der Sekundarstufe 2. Im Folgenden werden die Resultate dargelegt und kommentiert. Die Ausgangsdaten sind im Anschluss per Link abrufbar.
Kurzzusammenfassung der Ergebnisse
Von den an der Umfrage beteiligten Studierenden haben rund 75% den Grundlagenunterricht im Fach Bildnerisches Gestalten besucht und 40% einen vertieften Unterricht durchlaufen (20,3% Ergänzungsfach und 21,7% Schwerpunktfach). 10% der Architekturstudierenden haben hingegen gar keinen Kunstunterricht besucht.
Im ersten Teil der Befragung zu den «Kenntnissen und Fertigkeiten für ein Architekturstudium» stufen bei der Frage zu den «formalen Gestaltungsaspekten» (1a) fast alle Befragten die Relevanz von «Form und Komposition» als wichtig ein (99%). Den Aspekt «Oberfläche/Textur» betrachten 74% der Befragten als wichtig, «Farbe» hingegen 36% als wichtig und 63% als unwichtig.
Bei der Frage zur «Raumvorstellung und -darstellung» (1b) erachten alle Studierenden das allgemeine «räumliche Vorstellungsvermögen» als wichtig. Auch «Parallelprojektionen», «Fluchtpunktperspektiven», «Raumschaffende Mittel» und «Raumdarstellung nach Beobachtung» werden jeweils von mehr als 75% der Studierenden als wichtig angesehen. Die «Polyvalenten Raumdarstellungen» werden hingegen von 39% der Befragten als wichtig und 56% als unwichtig eingestuft.
Die Relevanz der «geschichtlichen Kenntnisse (Form, Inhalt, Epochen…)» (1c) wird in den Disziplinen Architektur und Fotografie als fundamental ermessen. Visuelle Kommunikation, visuelle Alltagskultur und Bildende Kunst erfahren ebenfalls Zuspruch, wenn auch merklich weniger. Produktdesign, Film und Animation sowie Mode werden hingegen mit über 50% der Studierenden als unwichtig erachtet. Jedoch zur «Rezeption und Reflexion einzelner Werke und Positionen (Analysen und Interpretationen…)» (1d) stufen die Studierenden auch die Bildende Kunst mehrheitlich als bedeutungsvoll ein. Bildende Kunst gewinnt zudem in der «Produktion» (1e) an Relevanz.
Bei der Frage zu den «weiteren medialen Bereichen» (1f) fällt die dreidimensionale Gestaltung auf – sowohl analog als auch digital: beide erhalten zwischen 90 bis 100 % Zustimmung. Knapp darauf folgen in der Skala der Wichtigkeit analoge Bildmedien und digitale Bilder mit mehr als 75% der Befragten. Installation, Szenografie und Performance, Web- und Gamedesign sowie insbesondere Drucktechniken werden mehrheitlich als unwichtig erachtet.
Von fast allen Studierenden werden schliesslich die Prozess- und Projektkompetenz sowie die Kreativitätskompetenz (1g) für ein Architekturstudium als grundlegende Skills erachtet.
Im zweiten Teil der Befragung (2a) wünschen sich rückblickend 75% der Studierenden eine fundiertere schulische Vorbildung im Bereich der Raumvorstellung und -darstellung sowie zu den digitalen Medien. Aber auch in allen anderen abgefragten Bereichen wünschen sich die Studierenden eine fundiertere schulische Vorbildung.
Details und Kommentar
1a) Textur (+52 zu -17) signifikant wichtiger als Farbe (+25 zu -44) gewichtet.
Dies überrascht bei der Vergegenwärtigung der aktuellen Lehrpläne und der landläufigen Unterrichtspraxis, wo die explizite Thematisierung von Textur in Bezug auf die Farbenlehre oft im Hintertreffen steht.
1b) Polyvalente Raumdarstellungen wie paradoxe Bildräume und Anamorphosen werden als einzige Raumdarstellungsbereiche mehrheitlich als unwichtig eingeschätzt (+27 zu -39), während räumliches Vorstellungsvermögen (+70 zu 0), Fluchtpunktperspektiven (+56 zu -13) und andere raumschaffende Mittel (+57 zu -12) von mehr als der Hälfte als sehr wichtig eingestuft werden.
Diese Daten erstaunen nicht, handelt es sich doch um grundlegende Skills für die Projektierung und Visualisierung von Architektur-Ideen. Nur, dass die Relevanz von polyvalenten Raumdarstellungen als mehrheitlich unwichtig eingeschätzt wird, irritiert, da auch hiermit die allgemeinen Raumkompetenzen und das räumliche Vorstellungsvermögen geschult werden können.
1c) Bei den geschichtlichen Kenntnissen werden Architektur (+62 zu -7) und Fotografie (+51 zu -18) als wichtig, Bildende Kunst als mittelmässig wichtig (+ 36 zu -33), Produktdesign (+23 zu -46) und Mode hingegen (+14 zu -54) als mehrheitlich unwichtig eingeschätzt. Die Hälfte der Befragten schätzt die Alltagskultur zudem (+40 zu -29) als mehrheitlich wichtig ein.
Was das Interesse der Geschichte im Hauptgeschäft Architektur angeht, war das Resultat zu erwarten. Dies gilt ebenso für die Fotografie, was mit der Präsenz der Architekturfotografie in Verbindung stehen könnte. Dass hingegen Wissen in Kunstgeschichte nur mittelmässiger Nutzen zugesprochen wird und Produktdesign oder Mode dieser abgesprochen wird, kann doch eher erstaunen. Durch die relative Nähe von Produktdesign und Mode zu Architektur in Bezug auf gesellschaftliche Anwendung oder formale Gestaltung und Materialwissen, sollte deren Nutzen für den Gestaltungsprozess eigentlich bewusst sein. In diesem Bereich bedarf es in der Vorbildung wohl verstärkt Vermittlungsarbeit. Hingegen fällt auf, dass der Wert der visuellen Alltagskultur für den Gestaltungsprozess der Architektur von den Studierenden anerkannt wird.
1d) Die Relevanz von Rezeption und Reflexion zu einzelnen Werken wird wieder am stärksten in der Analyse von architektonischen Werken gesehen (+ 62 zu -6), gefolgt von bildender Kunst (+41 zu -26) und Fotografie (+50 zu -17).
Die Rückmeldungen zur Rezeption und Reflexion mit entsprechenden Analysemethoden in den einzelnen Disziplinen zeigen zu den geschichtlichen Kenntnissen der jeweiligen Diszipline ein kongruentes Bild, ausser dass die bildende Kunst hier einen stärkeren Stellenwert erfährt als bei den geschichtlichen Kenntnissen. Offenbar wird die Fähigkeit zur Einzelanalyse der Werke höher eingeschätzt als ein kunst- oder architekturgeschichtlicher Gesamtüberblick. Dies geht mit der Bewegung zum kompetenzorientierten Unterricht einher und scheint sich als Tendenz teils auch schon in den einschlägigen Fachlehrmitteln und der Unterrichtspraxis widerzuspiegeln.
1e) Der Produktion geben die Studierenden einen hohen Stellenwert. Dies in absteigender Richtung vornehmlich in der Architektur (+68 zu 0), Fotografie (+57 zu -11), bildenden Kunst (+53 zu -15), visuellen Kommunikation (+41 zu -27), Produktdesign (+33 zu -35) und Film/Animation (+30 zu -38).
Die Produktion wird von den Architekturstudierenden in allen gestalterischen Bereichen wichtiger als deren Rezeption und Reflexion oder deren geschichtlichen Kenntnisse angesehen. Dieses unterstreicht die angewandte Seite der Architektur, nichtsdestotrotz wird die Relevanz des architektur- oder kunsthistorischen Wissens für den Gestaltungsprozess von den Architekturstudierenden nicht abgesprochen.
Tabelle 1: Einschätzung zur Relevanz der geschichtlichen Kenntnisse, Rezeption/Reflexion und Produktion in den einzelnen gestalterischen Bereichen im Vergleich (Frage 1c, 1d, 1e)
1c) Geschichtliche Kenntnisse |
1d) Rezeption und Reflexion |
1e) Produktion |
|||||
"+" |
"-" |
"+" |
"-" |
"+" |
"-" |
||
Architektur |
62 |
7 |
62 |
6 |
68 |
0 |
|
Bildende Kunst |
36 |
33 |
41 |
26 |
53 |
15 |
|
Produktdesign |
23 |
46 |
29 |
38 |
33 |
35 |
|
VisKom |
40 |
29 |
33 |
34 |
41 |
27 |
|
Fotografie |
51 |
18 |
50 |
17 |
57 |
11 |
|
Film/Animation |
23 |
46 |
22 |
44 |
30 |
38 |
|
Mode |
14 |
54 |
13 |
51 |
15 |
49 |
|
Visuelle Alltagskultur |
40 |
29 |
38 |
29 |
39 |
27 |
"+" = Summe der Anzahl Aussagen aus "sehr wichtig" und "eher wichtig"
"-" = Summe der Anzahl Aussagen aus "weniger wichtig" und "gar nicht wichtig"
unterstrichen = signifikanter Anstieg zur vorherigen Frage
kursiv = signifikanter Abfall zur vorherigen Frage
1f) In der Frage zur Relevanz weiterer medialer Bereiche wird die Vorbildung analoger Bildmedien wie z.B. Zeichnen, Malen, Collagieren, (+59 zu -8) oder analoger 3D Medien wie z.B. Modellieren oder Konstruieren (+66 zu -1) als sehr wichtig eingestuft. Genauso finden digitale Bilder mit z.B. Bildbearbeitung oder Layouten (+65 zu 0) sowie digitales 3D z.B. mit CAD oder Digitaldruck (+62 zu -5) hohe Zustimmung. Mittelmässige Relevanz wird der Programmierung z.B. von generativen Bildern zugesprochen (+40 zu -26). Eine eher bis klar negative Relevanzzuordnung erfahren hingegen Installation und Performance (+27 zu -39), Drucktechniken (+17 zu -50) sowie Web- und Gamedesign (+16 zu -51).
Bei der Frage zur Relevanz weiterer Medien werden vor allem traditionelle Bildmedien und dreidimensionale Gestaltung als fundamentale Skills angesehen. Aber auch den digitalen Medien, sowohl zwei- als auch dreidimensional, wird ein hoher Stellenwert eingeräumt. Drucktechniken hingegen fallen ab. Das negative Resultat zu Web- und Gamedesign überrascht, dies hätte jedoch besser separat erhoben werden müssen, um Erkenntnisse daraus gewinnen zu können
1g) Übergeordnete Gestaltungsprozesse werden von den Architekturstudierenden als fundamentale Skills angesehen, was sich in den Daten zur Kreativitätskompetenz (+60 zu -3) sowie Prozess- und Projektkompetenz (+67 zu -1) zeigt.
Dieses Resultat erstaunt nicht, ist aber wichtig so klar vor Augen zu haben. Skills zu Projektentwicklung sind ein wesentlicher Beitrag des Kunstunterrichts für alle Studien- und Arbeitsrichtungen. Kreativitäts-, Prozess- und Projektkompetenzen sind auch ausserhalb klassisch kreativer Studien- oder Arbeitsbereiche fundamentale Skills und erlauben in zukunftsweisenden Projekten die Entwicklung innovativer Resultate. Insofern ist es wichtig, sich auch in diesem Bereich der überfachliche Rolle im Kunstunterricht bewusst zu werden und etwa in die Professionalisierung eines propädeutischen Projektmanagements zu investieren.
2a) Rückblickend wurden die Studierenden gefragt, in welchen Bereichen sie selbst in Bezug auf ihre eigene Biografie insgesamt mehr Vorbildung gewünscht hätten. Dabei konnten sie fundierter/eher fundierter, genau richtig und weniger/gar keine auswählen. Tendenziell wünschten sich die Architekturstudierenden in allen Bereichen mehr Vorbildung, so – nach Bedarf geordnet – in den Bereichen Raumvorstellung und -darstellung (+52 zu 14 zu 0), digitale Medien (+51 zu 12 zu -3), allgemeine Gestaltungsprozesse (+43 zu 22 zu -1), analoge Medien (+43 zu 19 zu -4), Produktion (+43 zu 21 zu -2), geschichtliche Kenntnisse (+32 zu 30 zu -5), Reflexion und Rezeption (+32 zu 26 zu -7), formaler Gestaltungsbereich (+28 zu 28 zu -11).
Die eindrückliche Äusserung nach allgemein mehr künstlerischer Vorbildung weist darauf hin, dass die architekturinteressierten Schüler*nnen in ihrer gymnasialen Vorbildung für das Ergänzungsfach und Schwerpunktfach Bildnerisches Gestalten sowie für zusätzliche Kunstfreifächer stärker motiviert werden sollten. Einzig im formalen Gestaltungsbereich scheint aus der Perspektive der Studierenden die schulische Vorbildung zu genügen. Dies könnte die Lehrpersonen ermutigen, die souverän eingespielten Grundlagen im formalen Gestaltungsbereich etwas zu lösen, systematisieren oder in Projekte einzubinden, um so stärker auf kreative, produktive Prozesse und historisch-rezeptive Auseinandersetzungen in den verschiedenen gestalterisch-künstlerischen Disziplinen eingehen zu können.
Bemerkungen der Studierenden
Widersprüche und die Heterogenität in den Bemerkungen der Architekturstudierenden erschweren eine nutzbringende Auswertung der Rückmeldungen. So widersprechen sich etwa die Wortmeldungen wie “Ich finde[,] die digitalen Geräte sollten vorerst weggelassen werden, da man sein Auge zuerst über analoge Mittel schulen muss” mit dem Hinweis zum Fehlen vom “Umgang mit digitalen Medien”.
Dennoch gab es motivierende Einzelmeldungen, wie etwa folgende, die nicht vorenthalten werden will und als Give-away für die Vorbereitung vom nächsten Schuljahr genutzt werden darf – wem auch immer diese Rückmeldung gelten mag: “Das Schwerpunktfach BG hat mir geholfen, die Inhalte in diesem doch forderndem Studium schnell einzuordnen. Ich wäre wahrscheinlich ohne Vorkenntnisse aus der Kunstbetrachtung (speziell die architektonischen Themen), in Fächern wie Baugeschichte oder Geschichte und Theorie der Architektur leicht überfordert gewesen.”